Die Krebsforschung ist eine der dynamischsten und vielversprechendsten Bereiche der medizinischen Wissenschaft. Trotz der Fortschritte in der Onkologie gibt es immer noch Krebsarten, die besonders schwer zu behandeln sind. Eine davon ist Darmkrebs. Doch eine neue Forschungsarbeit könnte einen vielversprechenden Therapieansatz bieten – und das mit einem unerwarteten Mittel: Blutdruckmedikamente.
Darmkrebs - Ein globales Problem
Darmkrebs, auch kolorektales Karzinom genannt, ist weltweit die dritthäufigste Krebserkrankung und die zweithäufigste krebsbedingte Todesursache. Jedes Jahr erkranken in Deutschland etwa 54.770 Menschen daran. Besonders erschreckend: Trotz der zunehmenden Kenntnisse über die molekularen Mechanismen hinter dieser Krankheit gibt es bisher nur sehr wenige gezielte Therapien, die auf diese spezifischen Mechanismen abzielen. Aber die Grundlagenforschung macht stetig Fortschritte. Wissenschaftler untersuchen immer wieder neue Wege, um in die Mechanismen einzugreifen, die Krebs entstehen und wachsen lassen. Genau hier setzt die neue Forschungsarbeit an.
Worum geht es in der Studie?
Im Zentrum dieser Forschung steht ein Protein namens AXIN2. Dieses Protein spielt eine Schlüsselrolle in einem wichtigen Signalweg in unseren Zellen, dem sogenannten Wnt-Signalweg. Der Wnt-Signalweg ist essenziell für die Regulierung des Zellwachstums und der Zellerneuerung. Doch bei Darmkrebs ist dieser Signalweg in den meisten Fällen überaktiv und führt zu unkontrolliertem Zellwachstum – eine der Hauptursachen für die Entstehung von Tumoren. In gesunden Zellen hilft AXIN2 dabei, das Protein Beta-Catenin zu hemmen. Beta-Catenin ist ein Molekül, das in über 90 % der Darmkrebsfälle überaktiv ist und das Zellwachstum antreibt. Wenn AXIN2 also genügend vorhanden ist, kann es Beta-Catenin in Schach halten und so das unkontrollierte Zellwachstum stoppen. Die große Entdeckung dieser Studie war, dass bestimmte Blutdruckmedikamente dafür sorgen, dass soch das Protein AXIN2 in den Krebszellen ansammelt. Durch diese Anreicherung kann das krebsfördernde Beta-Catenin blockiert werden, was zu einer deutlichen Hemmung des Tumorwachstums führt. Das ist ein vielversprechender Therapieansatz, denn es bietet die Möglichkeit, die Tumorzellen gezielt anzugreifen, ohne gesunde Zellen stark zu schädigen.
Wie wurde das herausgefunden?
Was auf den ersten Blick wie eine einfache Entdeckung klingt, ist das Ergebnis von sorgfältiger und präzisen Grundlagenforschung. Hier ist ein Überblick über die Methodik, die zu dieser bahnbrechenden Erkenntnis führte:
Die Forscher führten ihre Experimente in Zellkulturen durch – sogenannten in-vitro-Studien. Die Bezeichnung "in-vitro" stammt aus dem lateinischen und bedeutet wörtlich übersetzt "im Glas". Das bedeutet, dass die Untersuchungen in einer kontrollierten Umgebung außerhalb eines lebenden Organismus stattfanden. Dies ermöglicht es, spezifische Veränderungen in den Zellen genau zu beobachten und zu analysieren. In dieser Studie wurden menschliche Darmkrebszellen (SW480) verwendet, die ursprünglich aus einem Darmtumor eines Patienten isoliert wurden. Im Labor können sie auf unbestimmte Zeit verwendet werden. Diese Zellen eignen sich besonders gut, weil sie die typischen genetischen Mutationen und Merkmale von Darmkrebs aufweisen und somit eine realistische Modellumgebung für die Untersuchung von Krebstherapien bieten.
2. Gentechnische Modifikation mittels CRISPR/Cas9
Ein weiterer entscheidender Schritt war der Einsatz der CRISPR/Cas9-Technologie, einem revolutionären Werkzeug zur gezielten Genbearbeitung. CRISPR/Cas9 funktioniert wie eine hochspezifische "Gen-Schere" und ermöglicht es den Forschern, bestimmte Gene in Zellen gezielt auszuschalten oder zu verändern. Dies ist von unschätzbarem Wert, weil es ermöglicht, den Einfluss eines einzelnen Gens auf die Zelle genau zu untersuchen. CRISPR/Cas9 hat die Forschung revolutioniert, da es einfacher, schneller und präziser ist als frühere gentechnische Methoden. In dieser Studie wurde das AXIN2-Gen in den Darmkrebszellen gezielt ausgeschaltet, um die Auswirkungen auf das Zellwachstum zu beobachten. So konnten die Forscher sehen, dass das unkontrollierte Wachstum der Krebszellen durch Abwesenheit des Protein AXIN2, das ja nun nicht mehr produziert werden kann, deutlich stärker wurde.
3. Einsatz von Blutdruckmedikamenten
In einem weiteren Schritt behandelten die Forscher die Krebszellen, in ihrer ursprünglichen Form, also mit dem Gen für AXIN2, mit verschiedenen Blutdrucksenkern, genauer gesagt mit sogenannten Tankyrase-Inhibitoren. Diese Medikamente blockieren das Enzym Tankyrase, das normalerweise für den Abbau des Proteins AXIN2 verantwortlich ist. Durch die Hemmung von Tankyrase kann AXIN2 in den Krebszellen angereichert werden. Dieser Anstieg von AXIN2 führt dazu, dass das krebsfördernde Protein Beta-Catenin in seiner Aktivität blockiert wird. Beta-Catenin spielt eine Schlüsselrolle bei der unkontrollierten Zellteilung, die typisch für Tumorzellen ist. Durch diese Behandlung konnte das unkontrollierte Zellwachstum deutlich reduziert werden. Die Tatsache, dass diese Medikamente ursprünglich zur Behandlung von Bluthochdruck entwickelt wurden, macht diesen Ansatz besonders spannend, da sie zeigt, wie wichtig es sein kann, in andere Richtungen zu denken und einfach mal Sachen auszuprobieren.
4. Molekularbiologische Analysen
Um die Mechanismen, die im letzten Absatz schon beschrieben wurden überhaupt erst richtig zu verstehen, führten die Forscher molekularbiologische Untersuchungen durch. Diese erlauben quasi einen Einblick in die molekulare Zusammensetzung der Zellen zu bestimmten Zeitpunkten der Experimente. Eine Schlüsseltechnik war dabei das Western Blotting, eine Methode, die es ermöglicht, spezifische Proteine in Zellproben nachzuweisen und ihre Menge zu messen. Dabei werden zu bestimmten Zeitpunkten Zellen aus dem Versuchsaufbau entnommen und aufbereitet. Anschließend werden die enthaltenen Inhaltsstoffe mithilfe eines elektrischen Feldes druch ein Gel gezogen und dabei nach ihrer Größe aufgetrennt. Zuletzt werden sie auf eine Membran übertragen, wo sie mit speziellen Antikörpern sichtbar gemacht werden können. In dieser Studie wurde Western Blotting verwendet, um die Konzentrationen von AXIN2 und Beta-Catenin in den Krebszellen zu messen. So konnten die Forscher genau nachvollziehen, wie die Blutdruckmedikamente die Proteine beeinflussten und welche Wechselwirkungen zwischen AXIN2 und Beta-Catenin stattfanden.
Was bedeuten diese Ergebnisse für die Zukunft?
Diese Ergebnisse eröffnen völlig neue Perspektiven in der Darmkrebstherapie. Obwohl sich die Forschung noch in einem frühen Stadium befindet, könnte der Einsatz dieser Blutdruckmedikamente als gezielte Krebstherapie in Zukunft eine wichtige Rolle spielen. Das Besondere an diesem Ansatz ist seine Selektivität: Da Darmkrebszellen deutlich mehr AXIN2 enthalten als gesunde Zellen, könnte es möglich sein, das Wachstum der Krebszellen zu hemmen, ohne die gesunden Zellen in der Umgebung stark zu beeinträchtigen. Ein weiterer Vorteil ist, dass die Blutdrucksenker, die in diesen Studien verwendet wurden, bereits sehr gut erforscht sind und in der Medizin eingesetzt werden. Das könnte die Entwicklung einer neuen Therapie enorm beschleunigen, da viele der Substanzen bereits in ihrer Wirkungsweise und ihren Nebenwirkungen bekannt sind.
Die Bedeutung von Grundlagenforschung
Diese Studie zeigt eindrucksvoll, wie wichtig die Grundlagenforschung für die Entwicklung neuer Therapien ist. Bevor ein Medikament in klinischen Studien am Menschen getestet werden kann, müssen Forscher die zugrunde liegenden Mechanismen einer Krankheit verstehen. In diesem Fall wurden Zellkulturen verwendet, um zu zeigen, dass bestimmte Blutdruckmedikamente das Wachstum von Darmkrebszellen hemmen können. Dies ist jedoch erst der Anfang. Der nächste Schritt wird sein, diese Ergebnisse in Tiermodellen zu testen, bevor schließlich klinische Studien am Menschen folgen. Grundlagenforschung mag oft wie ein langer, langsamer Prozess erscheinen, aber sie legt den Grundstein für Innovationen, die das Potenzial haben, irgendwann das Leben von Millionen von Menschen zu verändern.
Quelle:
Dr. rer. nat. Annika Mix